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Robert Rechenauer Architekten

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Die vergessene Mitte Europas
Lemberg, eine Annäherung

Städte kommen und vergehen, Lemberg ist geblieben; sogar der sprichwörtliche Stein auf dem anderen. Doch das Bild trügt, denn hinter den Steinen hat sich alles verändert - gewaltig, grundlegend und mehrfach. „Ein Lemberger konnte in seinem Leben an fünf verschieden Adressen gewohnt haben, ohne je umgezogen zu sein. Er hatte in fünf Staaten gelebt, ohne je die Stadt zu verlassen zu haben.“ beginnt Lutz C. Kleveman seine sehr breit aufgestellte und mehr als lesenswerte Monografie über „Lemberg - Die vergessenen Mitte Europas“.

Mit dem häufigen Wechsel der Staatszugehörigkeit erlebte besagter Lemberger nicht nur die humanitären und wirtschaftlichen Schätze einer multikulturellen Metropole, sondern auch soziale, politische und kulturelle Umbrüche, wie sie sich in kaum einer anderen Stadt jemals ereigneten. Die wenigsten dürften die leidvollen Umwälzungen überlebt haben, da sie womöglich selbst einer der grausamen und erbarmungslosen Verfolgungen, Massaker und Pogrome zum Opfer gefallen waren. Und wenn sie nicht ermordet wurden, müssten sie vor Schmerz über das Geschaute gestorben sein. Jede Gruppe dieser multikulturellen Stadt scheint einmal betroffen gewesen zu sein: Armenier, Österreicher, Ukrainer, Polen, Russen, Deutsche, Juden - betroffen oft in doppelten Sinn: nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter.

„… etwa 200 Zeitschriften in polnischer, ukrainischer, jiddischer, hebräischer und deutscher Sprache …“ zeugten von der „polyglotten Farbigkeit“ der heute in der Westukraine gelegenen Stadt, die lange Zeit für Entwicklung und Fortschritt stand. Vor dem Ersten Weltkrieg galt Lemberg als eine der bedeutendsten Städte Europas. Hier wirkten große Frauen und Männer wie die Philosophin Debora Vogel oder der Infektiologe Rudolf Weigl, der mit seinen Impfungen das Fleckfieber bezwang. Wissenschaftler, bildende Künstler, Dichter und Schriftsteller schufen einmalige Werke. Über Jahrhunderte gestalteten Architekten eine Stadt, die in nichts den Metropolen Wien, Warschau oder Berlin nachstand. 1998 wurde Lemberg aufgrund seines einmaligen Gebäudebestandes zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Darin kommt eine Wertschätzung zum Ausdruck, die vollkommen berechtigt ist. Doch es geht davon auch ein verstörender Impuls aus, der mit der fortlaufenden Lektüre des Buches zunehmend an Raum gewinnt.  

Geradezu grotesk mutet an, dass Lembergs Architektur die großen Tragödien des letzten Jahrhunderts nahezu unbeschadet überstanden hat. Das Gebaute steht als stummer Zeuge nicht nur für die glanzvolle Vergangenheit, sondern auch für die unglaublichen Gräuel, die den Bewohnern der Stadt widerfahren sind. Während in anderen Städten Schutt und Asche noch lange von den Katastrophen des Zweiten Weltkrieges zeugten, bezogen in Lemberg - scheinbar als ob nichts geschehen wäre - neue Bewohner die Häuser der Ermordet und Vertriebenen. In ihnen entwickelte sich alsbald neues Leben. Die alte „authentisch“ gebliebene Stadt Lemberg blieb die gleiche und erzählt von alledem nichts. Oder doch?

Normalerweise geht vom „Authentischen“ Sicherheit und Wahrheit aus, da nur das Authentische wirklich imstande ist, Zeugnis von einer Sache abzulegen. Mit Blick auf die Architektur Lembergs scheint sich die Bedeutung des Originals in ihr Gegenteil zu verkehren. Das Authentische erzählt hier nicht die Wahrheit, zumindest nicht die ganze Wahrheit. Das geschützte, mit dem Prädikat „Weltkulturerbe“ ausgestattete Bild der Stadt steht für eine Episode, die längst vergangen ist und nicht für ihre Fortsetzung. Der Konflikt zeigt, dass es hier um weit mehr geht als die Grandezza dieser Stadt: nämlich um uns selbst. Es geht um die ganze Wahrheit - auch wenn die ganze Wahrheit nie erzählt werden kann.

Egal, wo wir geboren sind, wo wir wohnen, welcher Ethnie wir entstammen oder Nation wir angehören, dem Weltkulturerbe-Gedanken liegt die großartige Idee zu Grunde, dass das von der Weltgemeinschaft erklärte Erbe nicht einem bestimmten Land oder einer Person gehört, sondern uns allen. Nicht die Bauten der Renaissance, des Barock, des Klassizismus oder des Jugendstils verleihen Lemberg den Status eines Weltkulturerbes, sondern die erschütternde Wahrheit seiner ganzen Geschichte, welche auch die Geschichte von uns allen ist. Wir sehen die „Belle Epoque“ und blicken gleichzeitig in den Abgrund. Beides gehört zusammen. Die gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen, die es immer gab und die weiter daraus folgten, erkennen und lösen wir nur, wenn wir der ganzen Geschichte in die Augen schauen.

Lutz C. Kleveman schaute hinter die Steine, recherchierte, befragte letzte Zeitzeugen und beförderte so eine Geschichte zu Tage, die schon fast vergessen schien. Mit der Geschichte, die er erzählt, meldet sich die Wahrheit zurück. Ich finde, sie wird dringend gebraucht und empfehle deshalb jedem die Lektüre dieses ambitionierten Buches.

Lutz C. Kleveman
Lemberg. Die vergessene Mitte Europas
Aufbau Verlag, Berlin 2017
315 Seiten, 24,00EUR
ISBN 978-3-351-03668-3  

12 ⁄ 2017
Robert Rechenauer


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