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Robert Rechenauer Architekten

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Die Simeonskirche zieht weiter

Die Kirchen waren einst der Stolz der ganzen Stadt. Sie gaben ihr ein Gesicht und so das unverwechselbare Aussehen. Keine andere Bauaufgabe erfuhr innerhalb der mittelalterlichen Bürgerschaft eine größere Zuwendung als die Gestaltung der Kirchen. Ihre Errichtung war ein großes Gemeinschaftswerk, das in der europäischen Baugeschichte ihresgleichen sucht. Türme zelebrierten den Ruhm Gottes über die Mauern der Stadt hinaus, mehrschiffige Hallen stellten für die städtische Gemeinschaft den wichtigsten Ort der eigenen Identifikation dar. Man holte sich die besten Baumeister, bediente sich der berühmtesten Künstler und baute über viele Generationen. Die Gesellschaft hat sich verändert, das Bild ist geblieben. Was wäre München ohne die welschen Türme der Frauenkirche?

Türme Frauenkirche München 15. Jahrhundert
Türme Frauenkirche München 15. Jahrhundert

Was bedeutet die Simeonskirche für Kleinhadern-Neufriedenheim?
Kleinhadern-Neufriedenheim wurde Anfang der 1960er Jahre am damaligen Stadtrand von München errichtet. Die Entwicklung geschah in enger Symbiose mit dem Wohnstift Augustinum, das mit einer eigenen Klinik einen Schwerpunkt der neuen Vorstadt bildete. Die evangelische Simeonskirche war integraler Bestandteil des Quartiers, die Gemeinde und Wohnstift gleichermaßen bediente. Entwurf und Planung stammten von dem Architekten Dirk Haubold. Nach zwei Jahren Bauzeit fand die Weihe am 15 11 1964 statt, die Gemeinde feierte kürzlich ihr 50jähriges Jubiläum.

Ehemalige Simeonskirche 2014
Ehemalige Simeonskirche 2014

Der kubische Kirchenbau bildet mit dem gleich hohen Glockenturm sowie nördlich gelegenen Kirchhof ein eigenständiges städtebauliches Ensemble. Der einschiffige Innenraum wurde als Stahlbetonskelettbau mit Zeltdachkonstruktion in Spannbetonbauweise errichtet. Die Wandflächen sind mit Kalksteinziegeln ausgefacht. Auf der Eingangs- und der zum Kirchhof gelegenen Nordseite sind Emporen angeordnet, die ursprünglich über eine Brücke mit der Klinik verbunden waren. Sie zeugen von der engen Bindung der Kirche zum Augustinum. Die Architektursprache ist sachlich und nüchtern, im unteren Bereich erfüllen farbenprächtige Buntglasfenster den Kirchenraum mit Leben. Sie wurden von dem Künstler Heiner Schuhmann entworfen und in den Werkstätten Gustav van Treek gefertigt. Die Fenster erzählen in großartigen Bildern die Heilsgeschichte Jesu, an deren Anfang der weise Simeon stand. Simeon wollte sehen. Lukas berichtet in seinem Evangelium kurz darüber: „In Jerusalem lebte damals ein Mann namens Simeon. Er war gerecht und fromm und wartete auf die Rettung Israels, und der Heilige Geist ruhte auf ihm. Vom Heiligen Geist war ihm offenbart worden, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe.“

Die Simeonskirche geht jetzt in eine Diaspora. Das alte Haus ist für seine Gemeinde zu groß geworden. Die Evangelische Landeskirche konnte das Gebäude nicht mehr halten und musste das Grundstück samt Kirchenbau veräußern. Die Simeonskirche wird jedoch nicht aufgegeben, sondern vom Augustinum in einen kleineren Raumkomplex ins Wohnstift München-Neufriedenheim übernommen. Die Gemeinde rückt zusammen und zieht mit dem Kreuz und den Kirchenfenstern ein Grundstück weiter.

Lichtprobe Kirchenfenster
Lichtprobe Kirchenfenster

Das Licht und die Fenster sind die tragenden Gestaltungselemente der neuen Simeonskirche: Thema der Architektur und die Botschaft, die die Kirche mit der Figur des weisen Simeon verbindet. Simeon wollte sehen und sah. Mit der Translozierung der Fenster versuche ich der Gemeinde und dem Augustinum den Fortbestand der Simeonskirche gestalterisch zu sichern und der Kirche das Potential für ein Weiterkommen zu geben. Im übertragenem Sinn knüpft der Entwurf an den städtebaulichen und gestalterischen Impuls der mittelalterlichen Bürgerkirche und ihrer gotischen Lichtmystik an. Er will der evangelischen Gemeinde, seinen katholischen Gästen und den Andacht Suchenden des Augustinums nicht nur einen Ort der Erleuchtung sein. Vielleicht können die Fenster eines Tages sogar wieder in eine größere Kirche weiter ziehen.

1 ⁄ 2015
Robert Rechenauer


Bildnachweis
Robert Rechenauer

Literaturhinweise
Karnapp Birgit-Verena, Kirchen - München und Umgebung nach 1945, Köhler & Amelang München ⁄ Berlin 1996